Kleidung als Symptom – „… denn aller Schmuck versteckt das Geschmückte.“

In der zweiten unzeitgemäßen Betrachtung lassen sich Kleidung und ihre vestimentäre Metaphorik als Symptome der diagnostizierten historischen Krankheit lesen. Kleidung als ein wesentlicher Teil der ästhetischen Alltagskultur wird zum Paradigma von Nietzsches Kritik am Bildungsideal seiner Zeit: „Die historische Bildung und der bürgerliche Universal-Rock herrschen zur gleichen Zeit.“ (HL, S.281) Kultur ist nur noch „Dekoration des Lebens“ (HL333); sie ist, so Nietzsche, nur noch Form, Oberfläche und in keinem Fall eine äußere Entsprechung des deutschen Wertes der ‚Innerlichkeit’. Zudem ist diese deutsche ‚Convention’ auch keine originär deutsche Art, sich zu kleiden. Der ‚bürgerliche Universalrock’ ist zu dieser Zeit eine sämtliche westliche Zivilisationen umfassende Modeerscheinung.

Nimmt man die Parallelisierung von ‚historischer Bildung’ und ‚bürgerlichem Universal-Rock’ ernst, so lässt sich hier bereits eine Form-Inhalt-Entsprechung annehmen. Denn seine Vorstellung der Kultur als einer „Einhelligkeit zwischen Leben, Denken, Scheinen und Wollen“ (HL, S.334) ist hier bereits vollzogen, nimmt er doch das Äußere als Symptom für einen inneren Zustand. Seine Forderung nach einer Kultur „als Einheit des künstlerischen Stiles in allen Lebensäusserungen eines Volkes“ (HL, S.274), als Einheit von Inhalt und Form, wird somit widersprüchlich. Ist doch diese Einheit, wenn auch negativ von ihm bewertet, bereits der Argumentation seiner Betrachtung zugrunde gelegt. Kleidung ist bereits Ausdruck eines inneren Zustandes, wenn er zum Ende feststellt, dass der Schmuck das Geschmückte versteckt. Letztlich soll Kultur mehr sein als „eine papierne Blume“ (HL, S.326), auch wenn sie das Symptom einer kranken Kultur ist.

Kann denn Kultur mehr sein als ein Ausdruck des inneren Zustandes? Ist nicht bereits die Art der Frage ein Wiederholung und Fortsetzung des Risses zwischen den Gegensätzen von Form und Inhalt? Liegt wirklich eine Hoffnung auf Überwindung der Gegensätze in der Aufforderung: „’zieht eure Jacken aus oder seid, was ihr scheint’“ (HL, S281)?

(Quelle: Nietzsche, Friedrich: Unzeitgemäße Betrachtungen II: „Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben“, in: Kritische Studienausgabe Bd. I (KSA I), hrsg. von G. Colli und M. Montinari, München 1988, S.241-334.)

     

Nietzsche – Philosoph der Kulturen, Internationaler Kongress der Nietzsche-Gesellschaft e.V., 23. bis 25. August 2007, Naumburg.